Freudweiler, Daniel Albert: An der obern Strasse. [Zürich?]: [1805]. Zentralbibliothek Zürich, Zürich 6.1, Universitätstrasse I, 1

Der Streit zwischen Ober- und Unterstrass

Universitätsstrasse 91

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In seinem Roman "Der grüne Heinrich" lässt Keller seinen jugendlichen Helden erste politische Erfahrungen machen, als auf dem Dorf Schillers "Wilhelm Tell" als Fastnachtsumzug inszeniert wird. Dieser führt durch die Nachbardörfer und -städtchen als Aufführungsorte. Die Mittagsrast wird auf dem Platze eines kleinen Marktfleckens abgehalten - man darf sich Eglisau vorstellen. Beim Tischgespräch unterhalten sich der Darsteller des Tell - im Berufsleben Wirt - und ein Holzhändler über das Projekt einer neuen Strasse. Jeder der beiden sieht zu, dass die Strasse bei ihm vorbeiführe, weil er sich davon Vorteile erhofft: Der Wirt möchte den Verkehrsstrom bei seinem Gasthaus vorbeifliessen lassen, der Holzhändler achtet darauf, dass die neue Strasse für seine Holztransporte möglichst keine Steigung aufweist. Keller könnte dieses Thema aus den aktuellen politischen Diskussionen geholt haben, die er in seiner Heimatstadt verfolgen konnte. In seiner "Chronik der Gemeinden Ober- und Unterstrass" von 1915 schreibt Konrad Escher: "Als in den dreissiger Jahren des vorigen Jahrhunderts die jetzige Universitätsstrasse angelegt wurde, gab die Ausmündung derselben auf der Terrasse von Oberstrass, auf der die "Linde" und das "Gesellenhaus" liegen, viel zu reden. [...] Statt die Strasse östlich bei der "Linde" vorbeizuführen, hätten viele es für richtiger gehalten, wenn man dort oben auf der Westseite dieses Gasthauses geblieben, also hier der alten Landstrasse gefolgt wäre [...]. Dadurch wäre die starke Steigung der neuen Strasse um etwas verringert worden. Da der Inhaber der "Linde", Ziegler, [...] Ingenieur und als solcher Angestellter des kantonalen Baudepartements und wahrscheinlich auch bei der Ausarbeitung dieses Strassenprojekts beteiligt war, so wurde dann die neue Strasse etwa "Gefälligkeitsstrasse" genannt [...]." Der Roman siedelt diesen von Keller zweifellos in seiner Heimatstadt verfolgten Interessenkonflikt in einem Dorf in der Nähe des Rheins an. Für den grünen Heinrich bleibt die wichtige Erkenntnis, dass es in einer Republik nicht um die Verwirklichung der Ideale geht, sondern um die Aushandlung von Interessen. Der Statthalter, der das Gespräch zwischen den beiden Männern angehört hat, gibt ihm die Lehre mit: "Sodann merkt euch für eure künftigen Tage, wer seinen Vorteil nicht mit unverhohlener Hand zu erringen und zu wahren versteht, der wird auch nie imstande sein, seinem Nächsten aus freier Tat einen Vorteil zu verschaffen!"

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Während man nun von allen Seiten aufbrach, hatte sich in unserer Nähe, wo der Statthalter, Wilhelm Tell, der Wirt, und andere Männer von Gewicht sassen, eine bedächtige Unterhaltung entsponnen. Es handelte sich um die Richtung einer neuen Landstrasse, welche von der Hauptstadt her durch diese Gegend an die Grenze geführt werden sollte. Zwei verschiedene Pläne standen sich in Bezug auf unser engeres Gebiet entgegen, welche mit gleichwiegenden Vorteilen und Schwierigkeiten verbunden waren; die eine Richtung ging über eine gedehnte Anhöhe, fast zusammenfallend mit einer älteren Strasse zweiten Ranges, musste aber im Zickzack geführt werden und stellte bedeutende Kosten in Aussicht; die andere ging mehr gerad und eben über den Fluss, allein hier war das anzukaufende Land teurer und überdies ein Brückenbau notwendig, so dass die Kosten sich also gleich kamen, während die Verkehrsverhältnisse sich ebenfalls ziemlich gleich stellten. Aber an der älteren Strasse auf der Anhöhe lag das Gasthaus des Tell, weit hinschauend und viel besucht von Geschäftsmännern und Fuhrleuten; durch die grosse Strasse in der Niederung würde sich der Verkehr dort hingezogen haben und das alte berühmte Haus vereinsamt worden sein; daher sprach sich der wackere Tell, an der Spitze eines Anhanges anderer Bewohner der Anhöhe, energisch für die Notwendigkeit aus, dass die neue Strasse über dieselbe gezogen werde. In der Tiefe hingegen hatte ein reicher Holzhändler, die Schiffahrt abwärts benutzend, seine weitläufigen Räume angelegt, dem nun die Strasse zum Transport aufwärts unentbehrlich schien. [G. Keller, Der grüne Heinrich, Kap. 2.14]

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