Gabriel Ludwig Lory, Das Koloristenatelier von Bartholomäus Fehr in St. Gallen, Feder und Aquarell, vor 1784. Kunstmuseum Bern, Legat C.L. Lory, Inv.Nr. A 3777

Ein wunderlicher Kunstspuk im ehemaligen Refektorium der Klosterfrauen

Kreuzgang Fraumünster

snake-pattern

Mit 15 Jahren trat Keller seine erste Lehre in der Lithographieanstalt eines gewissen Peter Steiger an. Die Keller-Literatur hat dieses Atelier bisher immer am Predigerkirchhof geortet. Allerdings will das nicht recht mit Kellers Hinweisen im Roman "Der grüne Heinrich" übereinstimmen, die Anstalt befinde sich "in einem alten Frauenklösterlein vor der Stadt, wenig beachtet". Auch von einem "Refektorium" sowie einem "halbverfallenen Kreuzgang" ist die Rede. Könnte Steigers Atelier in den Gebäuden rund um das Fraumünster zu suchen sein? Vielleicht ist Steigers Übername "Habersaat" im Roman eine Anspielung auf das "Haberhaus" beim Fraumünster, in welchem sich damals auch der Probesaal der Allgemeinen Musikgesellschaft befand? Aber vielleicht verdanken sich die Elemente von Kellers Schilderung vielmehr einer vor 1784 entstandenen aquarellierten Federzeichnung von Gabriel Lory, das Koloristenatelier von Bartholomäus Fehr in St. Gallen darstellend. (Bei Lory hat auch Kellers späterer Lehrer Rudolf Meyer gearbeitet.) Hat Keller vielleicht nicht seine Erfahrungen im sicher bescheidenen Atelier von Peter Steiger vor Augen, sondern wollte er das Schicksal vieler junger Künstler seiner Zeit überhaupt schildern, die als Koloristen in frühindustriellen Verhältnissen arbeiten mussten? Jedenfalls dürfte es sich bei Kellers Schilderung von "Habersaats" Anstalt weniger um eine lokalisierbare Adresse handeln als um eine aus Realien und Phantasien zusammengesetzte Konstruktion.

werk

So trieb ich endlich einen Mann auf, welcher in einem alten Frauenklösterlein vor der Stadt, wenig beachtet, einen wunderlichen Kunstspuk trieb. Es war ein Maler, Kupferstecher, Lithograph und Drucker in Einer Person, indem er, in einer verschollenen Manier, vielbesuchte Schweizerlandschaften zeichnete, dieselben in Kupfer kratzte, abdruckte und von einigen jungen Leuten mit Farben überziehen liess. [...] Bei diesem Treiben unterstützte ihn ein tapferes Häuflein Gerechter, und der Schauplatz ihrer Taten war das ehemalige Refektorium der frommen Klosterfrauen. Dessen beide Langseiten waren jede mit einem halben Dutzend hoher Fenster versehen mit runden Scheibchen, die das Licht wohl ein-, aber bei ihrer wellenförmigen Oberfläche keinen Blick hinausliessen, was auf den Fleiss der hier waltenden Kunstschule wohltätigen Einfluss übte. Jedes dieser Fenster war mit einem Kunstbeflissenen besetzt, welcher, dem Hintermanne den Rücken zukehrend, dem Vordermanne ins Genick sah. [G. Keller, Der grüne Heinrich, 1879, Kap. 2.5]

BESbswy